„Erzähl mir deine Lebensgeschichte!“. Mit dieser offenen wie oft auch zunächst ein wenig perplex machenden Einladung beginnen Schüler*innen und Studierende lebensgeschichtliche Oral-History-Interviews im Rahmen des Projekts Vielsprachiges Gedächtnis der Migration. Dieses wird unter der Leitung von Georg Traska (Österreichische Akademie der Wissenschaften) realisiert und durch das Forschungsförderprogramm „Sparkling Science 2.0“ finanziert.
Georg Traska macht Schüler*innen bzw. Studierende auf das Projekt aufmerksam und ermutigt sie dazu, Personen aus ihrem Bekannten- oder Verwandtenkreis, die in Österreich leben und Migrationserfahrungen durchlebt haben, durch den einführend genannten Satz „Erzähl mir deine Lebensgeschichte!“ zu biographischen Schilderungen einzuladen. Die Interviewteilnehmer*innen realisieren ihr Gespräch in einer (oder auch mehreren) geteilten und von den Interviewten frei gewählten Sprache(n) und es ist im Rahmen des Projekts vorgesehen, die entstehenden Erzählungen und Interaktionen im August 2025 in einer öffentlich zugänglichen Web-Ausstellung in Audio- oder Videoform (inklusive deutschsprachiger Untertitel im Falle anderssprachiger Interviewgespräche) allgemein zugänglich zu machen.
Das Forschungsdesign des Projektes erleichtert – so die Beschreibung auf der ÖAW-Homepage, „den Zugang zu Interviewpartner/innen, die sonst schwer für die Forschung erreichbar wären, und es ermöglicht ein Sampling, das in Hinblick auf die migrantischen Communities ein Minimum an sozialer oder institutioneller Selektion impliziert“ (https://www.oeaw.ac.at/ikw/forschung/gedaechtniskultur-memory-culture/projekte-gedaechtnis/vielsprachiges-gedaechtnis-der-migration), wodurch es sich beim Vielsprachigen Gedächtnis der Migration nicht nur um ein vielsprachiges sondern ebenso um ein vielstimmiges Projekt handelt, welches im Sinne des soziolinguistischen Konzepts der „voice“ (Stimme, vgl. z.B. Brizić 2022[1]) gerade auch solche Stimmen wahrnimmt und wahrnehmbar macht, die im sogenannten Mehrheitsdiskurs als sprechende (und nicht zu besprechende) Instanzen allzu oft beiseite geschoben, ignoriert oder übertönt werden.
Das Thema „Sprache und Macht“ liegt mir schon seit längerer Zeit am Herzen. Weit davon entfernt, neutrales Vehikel schlichter Informationen zu sein, stellt Sprache ein gesellschaftliches Differenzmerkmal dar, „mit dem […] soziale Zugehörigkeiten konstruiert, Über- und Unterordnungen geschaffen“ sowie „Ein- und Ausschlüsse legitimiert werden“, wie İnci Dirim (2016, 195) festhält. Mein Beitrag für die ÖLT 2024 stützte sich auf meine im Sommersemester 2024 verfasste Bachelorarbeit im Fachbereich „Deutsch als Zweitsprache“ unter der Leitung von Rainer Hawlik. Dankenswerterweise durfte ich für die Realisierung dieser Arbeit auf die – noch – unveröffentlichten Interwiewdaten des oben beschriebenen Projektes zugreifen und näherte mich diesen mit der Frage, auf welche Weise Sprache(n) in lebensgeschichtlichen Erzählungen des vorgestellten Projekts zum Thema gemacht wurde, d.h. konkreter, welche Bedeutsamkeit interviewte Personen Sprache(n) mit Blick auf ihr Selbst- und Weltverständnis zuschrieben (auch ohne explizit danach gefragt zu werden). Ich durchsuchte demnach vorhandene Interviewtranskripte auf Stichworte wie „Sprache(n)“ oder eben „*Bezeichnungen von Einzelsprachen, z.B. ‚Türkisch‘, ‚Deutsch‘*“ und stieß relativ rasch auf ein Interview, in dem der interviewte C. L. (anonymisiert) den unterschiedlichen Sprachen und sprachlichen Varietäten in seiner Lebenserzählung eine politische und zugleich individuell hoch relevante Bedeutung zuweist.
Im Zuge einer qualitativen, im Stil der „Grounded Theory“ verfahrenden und durch eine Agency-Analyse präzisierten Interpretation des Interviews, ließen sich insbesondere Kurdisch, Türkisch, Deutsch und der vorarlbergerische Dialekt als für C.L.s Zugang zu sich selbst und der Welt ausweisen. Dabei wurde das Türkische als vom, in den 1960ern in der Gegend um Dersim (Türkei) aufwachsenden, Kind C. L. als etwas im öffentlichen Raum Vorgefundenes (vgl. bspw. „draußen haben wir Türkisch kommuniziert“ Min. 4) und später zunehmend auch als Sprache von Unterdrückung und Gewalt Erlebtes und Erkanntes (bspw. identifiziert C. L. die alternativlose und forcierte Nutzung des Türkischen im öffentlichen Raum retrospektiv als „meine erste Unterdrückung […] von Kleinkind her“ (Min. 4) und benennt die politische Maßnahme der Folter mit dem Türkischen Begriff dafür: „falaka“ (Min. 10)) ausgewiesen. Das Kurdische wiederum wurde von C. L.s Mutter im Rahmen der häuslichen Sphäre sowie vom Jugendlichen und jungen Erwachsenen C. L. auch im öffentlichen Raum in seinem Recht als identitäts- und kulturprägende Sprache verteidigt (vgl. z.B. „auf Kurdisch haben wir geschrieben ‚Freiheit für Kurden, Kurdinnen‘). Deutsch/Vorarlbergerisch schließlich schilderte C. L. als vom zunächst Fremden hin zum Familiären sich wandelndes, eine Erweiterung des Selbst darstellendes, Konstitutiv, es sei – neben dem Kurdischen als „Vatersprache“ die „Muttersprache“ seiner Kinder (Min. 57), wie auch Österreich nun, nach seiner Familiengründung in Österreich und seiner Beziehung zu einer Vorarlbergerin, vom „Asyl-Land“ zum „Land meiner Kinder, Land meiner Frau“, ja sogar zu „meine[r] zweite[n] Heimat“ (Min. 56) geworden ist.
Hiervon und von mehr berichtete ich in meinem Beitrag für die ÖLT 2024, in dem, meiner Bachelorarbeit folgend, die oben formulierten Fragen nach dem Selbst- und Weltverständnis vor dem theoretischen Hintergrund der Subjektivierungsweisen und dem Konzept der Agency ausgehandelt wurden. Die 20 Vortragsminuten (siehe bzw. höre: https://emerginglinguists.org/de/48-oesterreichische-linguistiktagung/) vergingen wie im Flug und ich freute mich über zahlreiche positive Rückmeldungen. Die Verstrickungen zwischen Sprache und Macht zu benennen und sich ihnen gegenüber bewusst zu positionieren, empfinde ich als Mitglied einer pluralen Gesellschaft bedeutsam. Dieses Gegenübertreten kann insbesondere in Gesprächen auf Augenhöhe realisiert werden. Dass Projekte wie Vielsprachiges Gedächtnis der Migration, Veranstaltungen wie die ÖLT und Organisationen wie verbal und die Emerging Linguists eben dies beweisen, durfte ich selbst erfahren. Ich habe das Hinhören und Nachfragen im Rahmen von Georg Traskas Projekt (auch ich habe zwei lebensgeschichtliche Interviews geführt – wenn auch nicht das mit C. L.) als ebenso große Bereicherung und prägenden Ort der Begegnung und Ermutigung empfunden wie die ÖLT. Ich danke Edna Imamovic von verbal sehr herzlich für die tollen Gespräche im Zusammenhang mit dem Projekt Vielsprachiges Gedächtnis der Migration sowie den Vorschlag, mich für die ÖLT zu bewerben. Das Luftschloss, welches wir im Workshop von verbal und Emerging Linguists gemeinsam gebaut haben, ist aus gemeinsamen, generationenübergreifenden Gedanken gebaut, die verschiedene Stimmen hörbar sowie Wissenschaft greifbar und in ihrer Relevanz für das Leben von Menschen erfahrbar machen. Es ist demnach kein Schloss utopischen Charakters, sondern ein aufgeschlossenes, kommunikativ errichtetes Schloss, dessen Erbauer*innen sich trauen anzupacken und mutig in die Zukunft zu blicken.
Für den Grund, die Grundsteine, Bauskizzen und das Material dieses Schlosses bedanke ich mich herzlich bei allen Teilnehmer*innen des Workshops sowie insbesondere auch dem Organisator*innen- bzw. Vorstandsteam von verbal und Emerging Linguists, namentlich Edna Imamović und Sabine Lehner (verbal) sowie René Foidl und Laura Levstock (Emerging Linguists). 😊
Fußnote
[1] Brizić (2022, 18) definiert „voice“ als den Menschen gegebene (und von diesen realisierte) „Möglichkeiten und Grenzen, sich selbst zu artikulieren, das heißt: der eigenen Herkunft und Biografie, aber auch Zukunftsvisionen und Kompetenzen Ausdruck zu verleihen“.
Angeführte Literatur und Links im Kontext:
Brizic, Katharina (2022). Der Klang der Ungleichheit. Biografie, Bildung und Zusammenhalt in der vielsprachigen Gesellschaft. Münster: Waxmann.
Dirim, İnci (2016). „Ich wollte nie, dass die anderen merken, dass wir zu Hause Arabisch sprechen“. Perspektiven einer linguizismuskritischen pädagogischen Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern. Kulturen der Bildung. Kritische Perspektiven auf erziehungswissenschaftliche Verhältnisbestimmungen. Hummrich, M./Pfaff, N./Dirim, İ./Freitag, Ch. (Hrsg.). Wiesbaden: Springer VS, 191–208.
Projektbeschreibung Vielsprachiges Gedächtnis der Migration: https://www.oeaw.ac.at/ikw/forschung/gedaechtniskultur-memory-culture/projekte-gedaechtnis/vielsprachiges-gedaechtnis-der-migration
Programm der Österreichischen Linguistiktagung (ÖLT) 2024: https://www.uibk.ac.at/de/congress/oelt2024/programm/